Dimensionen einer Fahrt mit der Transsibirischen Eisenbahn

Jeder hat wohl seine Vorstellungen von der Fahrt mit der Transsib. Eine Person aus dem „Westen“, die von einer Transsib-Reise hört, nimmt augenblicklich diesen verträumten romantischen Gesichtsausdruck an und erklärt offen seinen Neid. Eine Person aus dem „Osten“ verdreht zunächst die Augen, fragt, warum man denn nicht einfach das Flugzeug nehme und erklärt einen dann für etwas verrückt. Wenn ich mich jetzt frage, wie ich mir vorher die Fahrt mit der Transsib vorgestellt habe, muss ich feststellen, dass die Vorstellungsbilder irgendwie romantisch-verklärt schwarz-weiß waren und einem Miss Marple Film entsprungen sein könnten. Hinzu mischten sich Bilder von Agenten wie Eisenbeiß aus einem älteren James Bond Film und von Wodka trinkenden Russen. Dies traf die Realität, leider(?), nicht so ganz, und um die Eindrücke beschreibbar zu machen, versuche ich sie an dieser Stelle in verschiedenen Dimensionen zu erschließen.

Dimensionen

Einstieg

Als wir uns aus Budgetgründen für die dritte Klassen entschieden, wussten wir, worauf wir uns einlassen, und wir haben es eigentlich auch nicht bereut. Als wir uns allerdings mit 56 Menschen in unseren Waggon gequetscht hatten, vorbei an den beiden nie lächelnden Schaffnerinnen unseres Waggons, und wir uns nach und nach von nackten männlichen Oberkörpern umgeben sahen und der Weg zur Toilette einem Hindernislauf um nackte Füße glich, die auf Kopfhöhe über die zu kurzen Betten hinausragten, bekamen wir doch ein etwas mulmiges Gefühl, hier die nächsten vier Tage verbringen zu dürfen. Hinzu kam die Erkenntnis, dass die Züge natürlich über keine Klimaanlage verfügten und die Temperatur im stehenden Zug gut 30 Grad betrug.

Erfolgserlebnis:

Ein paar Tage vor unserer Abreise erzählte mir Ania´s Mutter die Geschichte, wie sie 1991 zum ersten Mal nach Westeuropa fuhren und auf den öffentlichen Toiletten vergeblich die Wasserhähne suchten und erst nach längerer Zeit feststellten, dass das Wasser automatisch startete. Ähnlich hilflos fühlten wir uns in russischen Zügen. In den ersten beiden Zügen bis Moskau beschlossen wir, dass die Wasserhähne kaputt sein müssten, da beim Aufdrehen kein Wasser heraus kam. Als sie in der Transsib auch “kaputt” waren, beschlossen wir, dass kaputt wohl nicht das richtige Wort sei.  Ein Mitreisender, den ich mit Händen und Füßen nach der Funktionsweise der Wasserhähne befragte, schaute mich etwas entgeistert an und zeigte mir dann, dass ich einfach von unten dagegen drücken müsse. So viel Unwissen hatte er wohl nicht erwartet. Bei mir erzeugte das Bezwingen des Wasserhahns allerdings ein Erfolgserlebnis und die Tatsache, dass sich auch die Klappe der Toilette öffnete und den Blick auf die Schienen freigab, versprach zumindest in Bezug auf die hygienische Situation eine entspannte Fahrt.

Tagesrhythmus

Die Tage entwickelten einen angenehmen Rhythmus, der dieselben erstaunlich schnell vergehen ließ. Nach dem Aufstehen checkten wir zunächst, wann der erste längere Halt an diesem Morgen anstünde. Dann folgte die morgentliche Körperpflege mit Babytüchern und speziellen Babytüchern für den Windelbereich. Da die Mitreisenden in unserer direkten Umgebung auch schon etwas von Körperpflege gehört hatten und sich sogar das Fenster in unserem Abteil öffnen ließ, konnte man es in unserem Abteil ziemlich gut aushalten. Beides zuvor Gesagte traf allerdings weder auf alle Abteile noch auf alle Mitreisenden zu, was man im Vorbeigehen unschwer bemerken konnte. Nach dem ersten Halt folgte das Frühstück, dann die längere Beobachtung der langsam vorbeiziehenden Landschaft und die Diskussion über Veränderungen in derselben seit dem Vortag, gefolgt von einer längeren Phase des Herumliegens, Lesens und Hörbuch hörens. Dann ein kleines Nickerchen und das Warten auf einen weiteren längeren Halt am Nachmittag, um Verpflegung für das Abendessen zu kaufen. Dann ein weiterer UNO-Spieltag, bis es zu dunkel zum Spielen wurde, und dann ging es auch schon wieder ins Bett zum Schlafen.

Ausstieg

Hatte man sich erst mal auf diesen Rhythmus eingelassen, war es eigentlich sehr angenehm und kurzweilig. Übereinstimmend  stellten wir fest, dass wir eigentlich noch einige Tage so hätten weiterfahren können und eigentlich gar nicht aussteigen, sondern weiter in unserer kleinen sicheren und stetigen Welt  der Zugfahrt verbleiben wollten, ähnlich einem Baby, das sich vor der nahenden Geburt fürchtet.

Erkundungen

Die Welt im Zug war in den ersten beiden Tagen ziemlich klein. Unser Abteil, der Weg zur Toilette und zum Ausgang aus unserem Waggon während der längeren Aufenthalte des Zuges in einem Bahnhof. Gegen Ende des zweiten Tages erwachte allerdings unser Entdeckergeist, und so begaben wir uns in die unbekannten Gefilde der zweiten Klasse, wo es sogar Papierhandtücher sowie Seife ohne Schamhaare auf den Toiletten gab, und weiter in den Speisewagen, der sogar mit einer Klimaanlage aufwarten konnte. Und wir fassten den Plan, der Mittagshitze des nächsten Tages bei einem Kaffee im Speisewagen zu entfliehen. Auch hier bestätigte sich mal wieder eine Eigenart Russlands. Denn egal was man bestellt, das erste, was man sich aussucht, ist grundsätzlich nicht vorrätig. So war es auch mit dem Filterkaffee, der auf der Speisekarte aufgeführt war. Stattdessen gab es etwas ähnliches wie Nescafe zum gleichen Preis und für den Zucker musste man extra bezahlen.

Bahnhöfe

Wie wir bereits in Weißrussland feststellten, sind die Bahnhöfe hier wirklich beeindruckend. Viel beeindruckender sind aber die Bahnhöfe ohne Bahnhofsgebäude, da es hier keine offiziellen Geschäfte gibt und die Plattform von Babuschkas bevölkert wird, die alles mögliche verkaufen, wobei jeder Halt anders ist. An manchen Haltestellen wurden fast nur Zwiebeln und ganze Knoblauchknollen verkauft, an anderen wiederum gab es Fisch in allen Variationen, und wieder an anderen gab es Maultaschen und ganze Gerichte, die in Plastiktüten verpackt mit in den Zug genommen werden konnten.

Kontakte

Eine meiner Vorstellungen, von betrunkenen Russen die ganze Zeit zum Wodka trinken gedrängt zu werden, bestätigte sich zum Glück nicht. Die Leute in unser Umgebung waren ziemlich ruhig und zurückhaltend und zeigten vor allem Interesse an unserem komischen UNO Kartenspiel. Lediglich am letzten Tag der Reise kamen wir mit zwei Nachbarn etwas länger ins Gespräch, und ich musste ein zu großes Glas Wodka und Bier mit trinken. Für Ania als Frau sei Alkohol allerdings nichts und daher müsse sie nicht trinken, was sie allerdings unter Verweis auf ihre polnische Staatsangehörigkeit entschieden ablehnte 🙂 Beide Gesprächspartner waren ehemalige Soldaten. Einer von ihnen lebte in den 80er Jahren 8 Jahre in Erfurt und sprach somit ein paar Brocken Deutsch, und der andere lebt im Grenzgebiet zu Georgien. Dort war er 2008 im Georgienkrieg und bedeutete uns mit unschwer zu erkennenden Gesten, dass der georgische Präsident, Saakaschvili, etwas meschugge sei, sich mit Russland anzulegen und wie Sadam Hussein erhängt werden sollte. Zum Ende  gab er uns noch seine Adresse, so dass wir ihn dort einmal besuchen kommen können. Somit kennen wir jetzt Personen von beiden Seiten des Krieges. Unsere Bekanntschaft aus dem Zug und den Polizisten, der damals in Georgien unseren Fotoapparat wieder aufgetrieben hatte und uns auch Bilder von seinem Kriegseinsatz gegen Russland schickte. Vielleicht sollten wir ja mal ein Friedenscamp in Ossetien organisieren 😉

"Warum möchte mir hier jeder Zwiebeln und Knoblauch verkaufen? Ich will doch nur ein kaltes Bier ..."

Die beiden unteren Betten in unserem Abteil.

Blick in unseren Waggon

In meiner Lieblingsstellung in den letzten vier Tagen

"Mhhh lecker Fisch ..."

"Nicht in fahrende Züge springen"

Baikal See

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