„Was wollt ihr denn ausgerechnet im Irak? Seid ihr lebensmüde?“ Solche und ähnlich besorgt liebenswürdige Fragen bekommt man schon mal zu hören, wenn man erzählt, dass man gerne durch den Irak reisen möchte. Wohl kein Landesname, abgesehen von Somalia, löst solch negative Assoziationen aus. Wir können nun aber nicht behaupten, besonders mutig zu sein, und ganz so abenteuerlich, wie sich der Name Irak anhört, ist es bei weitem nicht. Zu behaupten, wir seien durch den Irak gereist, ist auch ein bisschen übertrieben, denn wir waren eigentlich nur in Kurdistan oder besser gesagt in der autonomen Region Kurdistan. Wir sind ja nicht lebensmüde 😉
Im Irak haben es die Kurden seit 1991 aufgrund der schwachen Position der Zentralregierung und der Protektion durch die USA zu weitreichender Autonomie gebracht. Seit in den letzten Jahren nicht nur Saddam verschwand, sondern auch noch große Ölfelder erschlossen wurden, ist die wirtschaftliche Entwicklung kaum aufzuhalten. In Irak-Kurdistan hat der zweite Golfkrieg nicht stattgefunden, die Kurden haben es geschafft, stabile staatliche Strukturen aufzubauen und für Ordnung zu sorgen. Selbstmordanschläge, Entführungen und Chaos gibt es hier praktisch nicht, und dabei sieht man nicht mal schweres Kampfgerät auf den Straßen. Die Reisewarnung des Auswärtigen Amtes für den Irak gilt ausdrücklich nicht für die Region Kurdistan und an den meisten Fahnenmasten weht nicht die irakische, sondern die kurdische Flagge.
Die Grenzüberquerung von Iran nach Kurdistan ging einfach und zügig vonstatten. An der Grenze stauten sich Hunderte Tanklaster und LKW, beladen mit Autos und Schiffscontainern. Da Kurdistan über keinen eigenen Hafen verfügt, läuft der gesamte Außenhandel über die Grenzübergänge zu Iran und zur Türkei. Wir konnten die Grenze zu Fuß allerdings in einer halben Stunde überqueren. Der Einreisestempel, den wir in den Pass gedrückt bekamen, erlaubte uns einen fünfzehntägigen Aufenthalt in der autonomen Region Kurdistan, nicht aber in den Städten Mosul und Kirkuk oder dem restlichen Irak. Dafür würde ein irakisches Visum benötigt. Obwohl auf fast allen verfügbaren Straßenkarten die Verkehrswege des Nordirak in Mosul zusammenlaufen, gibt es mittlerweile ein rein kurdisches Straßennetz, das dafür sorgt, dass man alle Teile Kurdistans gefahrlos und schnell erreichen kann, ohne andere Regionen oder umstrittene Städte zu durchqueren.
Hinter der Grenze versuchten wir unser Glück per Anhalter, und gleich das erste Fahrzeug nahm uns mit, obwohl wir gegenseitig kein Wort verstanden. Es fand sich allerdings ein Freund des Fahrers, der 25 Jahre lang in Schweden lebte, der für uns übersetzen und sogar erklären konnte, was per Anhalter fahren bedeutet 🙂 Im ersten Ort ließ er uns an einem Polizeicheckpoint raus. Wir wollten zwar gleich weiter, aber die Soldaten bestanden darauf, dass sie eine Mitfahrgelegenheit für uns suchen und wir uns stattdessen auf den Gartenstühlen ausruhen. Da sie uns wohl auch mit Waffengewalt auf ihre Stühle gezwungen hätten, legten wir freiwillig eine kleine Pause ein. Wir befürchteten zwar, dass sie nicht verstehen, was per Anhalter fahren bedeutet, und tatsächlich besorgten sie uns ein Taxi, aber zumindest bekamen wir einen kostenlosen Sprachkurs. Manche Soldaten sprachen Kurdisch, andere Arabisch und wieder andere Farsi und wir konnten gleich eine dreisprachige Wortliste anlegen. Nach einiger Zeit durften wir dann auch weiter und mussten nicht einmal das Taxi nehmen. Bereits eine Minute später nahm uns ein Geschäftsmann aus Erbil mit. Er sprach auch nur zwei Worte Englisch, war aber ein lustiger Zeitgenosse. Zwar wollten wir lediglich in das wenige Kilometer entfernte Rawanduz, aber da es unserem Fahrer das Herz zu brechen schien, dass wir nicht planten, Erbil zu besuchen, und da ein Sandsturm die Sicht in Rawanduz gerade auf 20 Meter reduzierte, entschlossen wir uns einfach, mit nach Erbil zu fahren. Da sich unser Fahrer an die Ramadan Regeln hielt, stoppte er Punkt viertel nach sieben, um innerhalb von drei Minuten eine Zigarette zu rauchen, eine Flasche Wasser zu trinken und ein großes Stück Honig zu essen. So gestärkt ging es dann weiter in Richtung Erbil. Er bestand auch darauf, dass wir die Nacht bei seiner Familie verbringen, und so fanden wir uns eine Stunde später in seinem Haus in Erbil wieder, wo uns seine Frau, sein achtjähriger Sohn sowie seine Schwiegermutter mit Abendessen und reichlich Tee versorgten. Die Wände zierten mehrere große Portraitfotografien. Neben dem aktuellen kurdische Präsidenten, Masud Barzani, fand sich dessen Vater, Molla Mustafa Barzani. Daneben hingen die Fotos des Schwiegervaters und eines Bruders, die beide im Kampf gegen den Irak umkamen. Um unsere Verständigungsschwierigkeiten zu lösen, besuchten wir zunächst einen Freund unseres Fahrers, der als Flüchtling mehrere Jahre in Deutschland lebte und vor einem Jahr ein Café in einem Einkaufszentrum eröffnete. Ein merkwürdiges Gefühl, in einem schicken Café in einem ultramodernen Einkaufszentrum zu sitzen und Teenagern in einem Eislaufring (mitten im Einkaufzentrum) beim Schlittschuhlaufen zuzuschauen. Das hier ist ja immer noch Irak oder? 😉 Zurück im Haus der Familie wurde eine Nichte aufgetrieben, die als Englischlehrerin arbeitet und daher übersetzen konnte. Da die Nacht etwas länger wurde, kamen wir am nächsten Tag erst mittags auf die Beine. Obwohl die Familie wegen Ramadan fastete, bestand sie darauf, dass wir im Haus frühstückten. Ein Freund der Familie, in traditionelle kurdische Baggyhosen gekleidet, der nicht die Ramadan Regeln befolgte, versuchte zwar, unseren Gastgeber mit einem Glas Wasser zu verführen, aber dieser blieb standhaft.
Um die Gastfreundschaft nicht zu lange in Anspruch zu nehmen und etwas mehr von Erbil zu sehen, zogen wir am nächsten Tag in ein Hotel im historischen Stadtzentrum um. Hotels gibt es in ganz Kurdistan wie Sand am Meer, da Iraker aus allen Landesteilen hierher kommen, um im Urlaub die Ruhe, Sicherheit und Berge Kurdistans zu genießen. Damit sei allerdings leider auch gesagt, dass es keine wirklich günstigen Unterkünfte oder gar so etwas wie Hostels gibt. Im Zentrum Erbils erhebt sich eine Zitadelle auf einem Hügel gut 20 Meter über der Umgebung. Seit mehreren Jahren versucht die Regierung, mit Hilfe der Unesco die Gebäude zu konservieren und zu renovieren, bisher ist das meiste allerdings nicht zugänglich. Ein Polizist führte uns allerdings durch die abgesperrten Straßen und in die alten Gebäude. In ein paar Jahren wird die gesamte Zitadelle eine spannende Touristenattraktion sein.
In einem Dönerladen lernten wir gleich mehrere Berliner kennen, die nach 25 Jahren in Deutschland nun zwischen Kurdistan und Deutschland pendeln und sich hier mit einem Dönerladen selbstständig gemacht haben.
Am nächsten Tag ging es wieder auf die Straße in Richtung Norden nach Dohuk. Einige Kilometer nahm uns ein junger Engländer mit, dessen Eltern aus Kurdistan stammten, und der sich erstmalig in Kurdistan aufhielt (O-Ton: „It´s crazy man!”). Dann nahm uns ein Geschäftsmann mit, der, in Dohuk angekommen, plötzlich hundert Dollar von uns haben wollte. Wir „einigten” uns dann schließlich auf 8 Dollar. Durch diesen Zwischenfall waren wir zunächst etwas vom per Anhalter fahren ernüchtert und wollten zumindest bis vor die Stadt laufen, um eine neue Mitfahrgelegenheit zu suchen. Da wir nach einem Kilometer laufen anscheinend ziemlich erbärmlich aussahen, hielt ein Fahrer von selbst an, um uns mitzunehmen. Zunächst hielt er an einem Geschäft und erschien zwei Minuten später mit einer großen Tüte gefüllt mit Cola, Eiscreme, Chips und Schokolade (wir müssen wirklich schlecht ausgesehen haben). Er zeigte auf sich und erzählte was von Ramadan, hatte dann aber doch ein Eis im Mund. Obwohl wir nicht wollten, machte er extra für uns einen größeren Umweg und zeigte uns die Gegend. Die Nacht verbrachten wir dann in unserem Zelt in Sulav gegenüber der Stadt Amedi. Sulav besteht einzig und allein aus Cafés und Restaurants, die sich an einem Bergbach eine kleine Schlucht hinaufschlengeln. An einer Stelle ist der Bergbach zu einem Swimmingpool aufgestaut und von Sulav aus bietet sich auch ein guter Ausblick auf die nahegelegene Felsenstadt Amedi. Dies alles macht Sulav zu einem beliebten Ausflugsziel für Irakis. Nach Aussage eines deutsch-kurdischen Cafébesitzers, den wir hier kennenlernten, kämen arabische Familien hierher, um ihren Kindern zu zeigen, dass Wasser auch kalt sein könne. Ansonsten war er nicht so gut auf Araber zu sprechen, da diese mit ihren riesigen Familien viele Tische in seinem Café belegen würden und sogar ihr Essen selber mitbrächten. Wie alle Kurden, die wir kennenlernten, traut er Türken und Arabern nicht über den Weg, da diese nur an Krieg gegen die Kurden interessiert seien, was er alles in allem ziemlich „Scheiße” fand. Er kam 1988 nach Deutschland, als Saddam auf die Kurden im eigenen Land Jagd machte, und kehrte vor vier Jahren nach Kurdistan zurück, um das Café zu führen, das einst seinem Großvater gehörte.
Wegen Ramadan war in Sulav insgesamt wenig los. Vor allem kurdische Christen belegten die Picknickplätze und Cafés, dies allerdings auch nur am Freitag, dem einzigen arbeitsfreien Wochentag. Wir lernten einige Studenten aus Duhok kennen, die uns zum Frühstück einluden. Beim anschließenden Schwimmen durfte Ania als Frau allerdings nur zuschauen, da das Schwimmen in der Öffentlichkeit den Männern vorbehalten ist. Der deutsch-kurdische Cafébesitzer erzählte uns von seinen zwölfjährigen Enkeltöchtern, die vor mehreren Jahren zu Besuch waren und es wagten zu baden. Die Nachbarn würden noch heute davon erzählen.
Nach einer Nacht in Sulav ging es dann weiter nach Zakho an der türkischen Grenze. In Zakho lernten wir einen Kurden kennen, der viele Jahre in England lebte und einen beeindruckenden Manchester Akzent beherrschte. Da er in England kein Bleiberecht erhielt, versuchte er ohne Pass über Deutschland nach Schweden zu emigrieren, wurde allerdings von der deutschen Polizei erwischt und nach England abgeschoben. Als er dort im Gefängnis saß, habe er 2010 beim WM Achtelfinale England-Deutschland trotzdem die deutsche Mannschaft angefeuert, da die Eltern von Mesut Özil türkische Kurden seien. Da die Engländer dies nicht all zu lustig fanden, habe er Fernsehverbot erhalten und sei in Einzelhaft verlegt worden. Respekt, sich so etwas in einem englischen Gefängnis zu trauen 🙂