Wir haben eine Kulturgrenze überschritten. Die Zeit der Händchen haltenden Männer, der frisch gebackenen Chapaties, der englisch sprechenden Schäfer, der Frage „where are you from“ und der Hitler-Bewunderer ist mit dem Verlassen des indischen Subkontinents vorbei. Wir sind in China, wo die Menschen höflich uninteressiert an Fremden sind und fast niemand Englisch spricht. In dem Land, in dem jeder Schritt mit einer Kamera überwacht wird, Uhren selbst im tiefsten Westen nach der Pekinger Zeitzone ticken, Kinder Schlitze in den Hosen haben, um ihre Notdurft auf Zeitungspapier in der Öffentlichkeit zu verrichten und der Wandel schnell voranschreitet als eine Scooter-Batterie zur Entladung benötigt. Allein der Gedanke, in China einen sieben Jahre alten Reiseführer zu benutzen, wie wir es in Indien ohne Probleme taten, scheint absurd.
Die Kulturgrenze könnte nicht greifbarer sein als an der abgelegenen pakistanisch-chinesischen Grenze auf dem Khunjerab Pass auf 4700 Meter Höhe. Die Schotterpiste, die auf der pakistanischen Seite zur Grenze führt, endet abrupt, und auf der chinesischen Seite findet man wie von Zauberhand eine richtige Straße vor. Mit dem Überschreiten der Grenze ändert sich auch die Landschaft. Schlängelt sich der Karakoram Highway auf pakistanischer Seite meist dramatisch durch enge Bergtäler, weitet sich die Landschaft auf der chinesischen Seite zu einem flach abfallenden Plateau, das lediglich von buschigen Langschwanzmurmeltieren in großer Anzahl bewohnt wird, die wild über die Wiesen hoppeln. Strategisch besser kann eine Grenze wohl nicht gelegen sein.
Wir starteten unsere Reise von Pakistan nach China in der staubigen pakistanischen Grenzstadt Sost, deren Existenzberechtigung einzig aus der nur 90 Kilometer entfernten Grenze abgeleitet scheint. Seitdem ein Erdrutsch im Jahr 2010 den Hunza Fluss zu einem See aufgestaut hat, der den Karakoram Highway auf 20 Kilometer Länge verschlang, ist Sost von Süden aus nicht mehr durchgängig mit dem Auto zu erreichen.
Täglich verlässt ein Bus Sost in Richtung China, dessen Größe an die Zahl der jeweils vorhandenen Passagiere angepasst wird. Mit uns möchten neun Geschäftsleute aus Pakistan, China und Kirgistan in Richtung China aufbrechen und wir finden in einem Toyota Hiace bequem Platz, da wir aus den letzten Wochen ganz andere Belegungszahlen gewohnt sind. Bevor der Bus abfährt, müssen allerdings erst die Grenzformalitäten erledigt werden, da der Grenzposten in Sost, 90 Kilometer vor der eigentlichen Grenze, angesiedelt ist. Zunächst durchsuchte der Zoll unser Gepäck, wobei jedes einzelne Gepäckstück aus unseren Rucksäcken ausgepackt wurde. Shampoo und Duschgel wurden geöffnet und einer Geruchstkontrolle unterzogen. Jedes Kleidungsstück wurde gründlich abgetastet und eingeschweißte Keksverpackungen stichprobenartig geöffnet. Besondere Aufmerksamkeit wurde unserer Medikamententasche gewidmet, wobei sogar einzelne Tabletten auseinandergenommen und einem Geruchstest unterzogen wurden. Nachdem alles wieder in den Rucksäcken verstaut war, wurden diese zur Endbegutachtung einem Schäferhund vorgelegt, der auch nichts zu beanstanden hatte. Die Pakistaner, die zumindest gegenüber Marihuana ein entspanntes Verhältnis haben, geht es dabei vor allem darum, ein gutes Verhältnis zu China zu wahren und die Grenzgänger zu schützen. So erzählte uns ein älterer Engländer, den wir in Karimabad kennenlernten, dass er diese Grenze schon öfter überquerte und die Pakistaner einmal ein Stück Marihuana bei ihm fanden. Dieses wurde dann unbürokratisch konfisziert (zum Eigengebrauch?) und man teilte ihm mit, dass dies nur zu seinem Schutz vor den strengen Chinesen geschehe.
Danach ging es weiter zur Emigration, wo wir den Ausreisestempel erhielten. Das Büro war mit einem Wandteppich, einem Geschenk der chinesischen Kollegen, dekoriert, der den sinnfreien Spruch „Bruderschaft ist Zuneigung (Erkrankung?), Diplomatie ist ewig.“ („Broderhood is affection, diplomacy is eternal“) trug und die bevorstehende Kulturgrenze wie ein Omen ankündigte. Nachdem wir die 90 km zur Grenze auf dem Khunjerab Pass in drei Stunden zurücklegten, begann das Spiel mit dem Zoll von neuem, allerdings in einer qualitativ verschärften Form. An der Grenze begrüßten uns neben jungen chinesischen Grenzbeamten, natürlich in zu große Uniformen gekleidet, ein Propagandaposter mit der Aufschrift „Harmonie verbindet die Welt, Zuneigung (Krankheit?) lebt ohne Grenzen“ („Harmay communicates the world, affection lives without border“).
Zunächst mussten alle im Bus sitzen bleiben, bis das militärische Kommando der Chinesen zum Aussteigen kam und alle in einen Warteraum getrieben wurden. Danach wurde jedes einzelne Gepäckstück noch gründlicher als zuvor durchsucht. Besonders verdächtig schienen meine Wanderschuhe und eine Packung Kekse, die drei Mal durch die Röntgenmaschine geschickt und argwöhnisch beäugt wurden. Man war schon kurz davor, den Schuh komplett auseinander zu nehmen, hat es dann aber zum Glück doch gelassen. Dann wurde ich vom Grenzer aufgefordert, einen Keks zu essen, worauf ich gerade gar keine Lust hatte und ihm anbot, doch selber einen zu essen. Dazu schien er wiederum keine Lust zu haben und somit durften die Kekse ungeprüft nach China einreisen. Argwohn erregte auch das Buch von Paul Theroux „Riding the Iron Rooster – By train through China“ (Ritt auf dem eisernen Hahn – Mit dem Zug durch China) aus dem Jahr 1988. Zum Glück sah der Grenzer allerdings nicht, dass es um China ging, sondern meinte, das Buch handle vom Iran (Iron) 😉 und witterte schon religiöse Propagandaliteratur. Er ließ sich dann allerdings doch davon überzeugen, dass es lediglich um Metall und nicht um Mullahs gehe. Bei der Medikamententasche schien ihm dann allerdings die Lust zu vergehen ,und nachdem er sich bei mir vergewisserte, dass die pakistanischen Kollegen ähnlich genau gearbeitet hätten, ersparte er sich zum Glück eine nähere Kontrolle. Nachdem die leeren Rucksäcke überprüft waren, durften wir wieder alles bis auf den Computer und unsere USB Sticks zusammenpacken, die einer separaten, allerdings nicht sehr professionellen Kontrolle unterzogen wurden. Meine Frage, was er denn eigentlich suche, überhörte er zunächst geflissentlich und machte sich daran, unsere Dateien zu überprüfen. Unser Computer öffnet Bilddateien allerdings zunächst einmal mit Paint, welches nur einen kleinen Ausschnitt des Bildes vergrößert anzeigt, und daher musste der Zöllner umständlich herumscrollen, um einen Eindruck vom Bild zu bekommen. Na dann viel Spaß bei unseren mehren tausend Bilddateien, die dazu noch auf einem USB Stick gespeichert sind 🙂 Wir hatten erst kurz überlegt, ihm zu zeigen, wie man die Bilder mit weniger Aufwand betrachtet, ließen es dann allerdings doch bleiben. Hähä.
Bald verließ ihn dann die Lust und er fragte nur, ob wir religiöse Videos gespeichert hätten, woraufhin wir ihn fragten, was er denn darunter verstehe. Darauf gab er keine Antwort und kurze Zeit später beendete er die Inspektion. Danach mussten alle im abgeschlossenen Warteraum ausharren, bis das Kommando zum Ausrücken kam, und plötzlich konnte es den Grenzern nicht schnell genug gehen, uns in den Bus zu treiben.
Vom Grenzübergang, auf 4700 Meter gelegen, ging es dann über 140 km sanft bergab zur Grenzstadt Tashkurgan auf 3100 Meter. Hierher wurden wir von einem Soldaten begleitet, da wir erst in Tashkurgan den offiziellen Einreisestempel erhielten und einer Endkontrolle unterzogen wurden. Da es hier auch erstmalig weibliche Grenzbeamten gab, konnte auch Ania einer Körperkontrolle unterzogen werden. Ich wurde bereits in Pakistan ausgiebig abgetastet und dachte schon, dass mir der Stinker einen Finger in den Hintern stecken wollte, was er dann zum Glück doch nicht tat. Ania musste sich in China allerdings in einem separatem Raum ,und dann wurde ihr Bauch gründlich abgetastet. Es wurden allerdings keine verschluckten Drogenpakete gefunden. Wie sagen die Pakistaner und Chinesen so schön „Thank you for your cooperation“.
In Tashkurgan erwartete uns in vielerlei Hinsicht eine typische chinesische Grenzstadt mit breiten vierspurigen Straßen, auf denen allerdings fast keine Fahrzeuge zu sehen waren und Menschen unendlich klein erschienen. Einen faszinierenden Anblick boten die lautlos dahingleitenden chinesischen Elektroroller, die Vorboten einer lautlosen Verkehrsrevolution. Interessant war auch ein neuartiges Elektroauto der Polizei, das wie ein Golfwagen im PT Cruiser Style daher kam. Mit diesem futuristischen Gefährt cruisten vier junge chinesische Polizisten mit laut aufgedrehter Musik durch die leeren Straßen.
Tashkurgan ist allerdings keine rein chinesische Stadt, sondern vorrangig von Uiguren bewohnt. Besonders uigurische Frauen sind, vor allem wenn man aus Pakistan kommt, ein merkwürdiger Anblick. Sie sind meist in bunte Kleider gehüllt, die alle Farben des Regenbogens (und noch einige mehr) enthalten und oft schon oberhalb des Knies enden. Diese bunten Kleider werden mit ebenso bunten Kopftüchern in möglichst beißender und kitschiger Art und Weise verbunden, wobei gerne auch noch ein traditioneller Hut in das Kopftuch integriert wird. Dazu kommen dann noch hochhackige Stöckelschuhe und fertig ist eines der weltweit kitschigsten Outfits 🙂
Von Tashkurgan ging es dann am nächsten Tag nach Kashgar, der westlichsten Stadt Chinas. Auch hier stellen Uiguren die Mehrzahl der Einwohner, die Zahl der Han Chinesen ist allerdings auch beträchtlich. So wandelt man in Kashgar zwischen den Welten. Steht man in einer Minute auf einer breiten chinesischen Straße gesäumt von modernen Geschäftshäusern, kann man in der nächsten Minute schon in den alten Gassen des uigurischen Kashgar stehen, die meist vom Dampf der auf Holzkohle garenden Kebabs verschleiert werden. Große Teile des alten Kashgar, die wie Inseln in Meer der modernen Großstadt wirken, sind allerdings weitestgehend verlassen und zerfallen. Im Alltag scheinen Uiguren und Chinesen somit eher nebeneinander zu wohnen. Gerade die Mischung zwischen uigurischen und chinesischen Einflüssen machen aber auch den Reiz der Stadt aus.
Dass das Zusammenleben von Uiguren und Chinesen nicht immer völlig problemlos verläuft, kann an der Präsenz von Polizei und Militär abgelesen werden. In schwarze Kampfuniform gehüllte Sondereinsatzkommandos zeigen Präsenz auf den Straßen, und vor dem Volkspark, zu Füßen einer riesigen Maostatue, beschützen Soldaten mit Schutzschildern und Knüppeln den Versammlungsplatz vor Versammlungen. Das letzte Mal kam es im Januar zu Zusammenstößen zwischen Staatsmacht und Demonstranten (im offiziellen Jargon auch Terroristen genannt), wobei 12 Demonstranten starben.