Das gespaltene Punjab I – Amritsar in Indien

Wir sitzen im Zug in Richtung Amritsar, dem spirituellen Herzen der Religionsgemeinschaft der Sikh. Dank der kostenlos verteilten Zeitungen erfahren wir, warum wir die letzten Tage in Delhi dermaßen schwitzen mussten. Eine Hitzewelle sorgte nämlich für Tagestemperaturen von 43 Grad, und auch nachts kühlte es lediglich auf 29 Grad herunter. Zum Glück sitzen wir allerdings nun in einem angenehm klimatisierten Zugabteil und können entspannt Zeitung lesen. Selbst wenn ich bis zu diesem Zeitpunkt angenommen hätte, dass Indien ein ganz normales Land sei, würde spätestens die Zeitungslektüre erste Zweifel aufkommen lassen. Ich verstehe schon meist die verworrenen Überschriften der Artikel kaum. Spätestens nach der Hälfte eines Artikels bin ich dann zwischen der Vielzahl zitierter Paragraphen und ausführlichster Dienstgradbeschreibungen der beteiligten Personen hoffnungslos verloren. Mein Lieblingsartikel („Cafe-cum-loo project is off, now stink over the nine prototypes“) behandelt das Ende des „Kaffee-mit-Toilette“ (zumindest nehme ich mal an, dass es sich bei cum um das lateinische und nicht um das englische Wort handelt, aber in Indien würde mich nichts mehr wundern) Projekt. In ganz Delhi sollten mehrere hundert öffentliche „sieben Sterne“ Bedürfnisanstalten samt angeschlossener Kaffees entstehen, die durch private Betreibergesellschaften errichtet und betrieben werden sollten. Was für ein innovatives Konzept. Als Kaffee-Aroma Varianten hätten wohl Toilettenstein, Klobürste und Harnsäure zur Auswahl gestanden. Nach dem Bau von neun Pilotanlagen hat die Stadt den Investoren allerdings die Lizenz entzogen und möchte die bereits errichteten Bedürfnisanstalten selber betreiben. Seitdem kann hier weder gepinkelt noch Kaffee getrunken werden. Dafür wird jede einzelne Toilette durch einen privaten Sicherheitsdienst überwacht, damit auch niemand an die „sieben Sterne Fassade“ pinkeln soll. Ein öffentliches Evaluationskommitee sollte jedenfalls schon im Januar Empfehlungen vorlegen, wie die Investoren ausgezahlt werden könnten, aber ganz so schnell arbeitet die indische Bürokratie dann doch nicht. Man müsse sich erst einmal ganz genau in die Thematik einarbeiten.

Dank der erheiternden Berichte vergeht die Bahnfahrt wie im Fluge und wir erreichen gegen Mittag Amritsar. Wir irren ein bisschen im Bahnhof umher und sind aufgrund der sichtbaren Armut etwas geschockt. Unter anderem starrt uns ein nackter Mann an, der in seinem eigenen Kot sitzt. Am Bahnhofsausgang schläft ein Mann, dem so viele Fliegen im Mund herumkrabbeln, so dass ich nicht beurteilen kann, ob schlafen der angemessene Ausdruck ist. Da in Delhi gerade die drei Monate langen Sommerferien begonnen haben und Amritsar auf dem Weg in Richtung Gebirge liegt, wird es von Tag zu Tag voller. Die Autos sind mit den zahlreich vorhandenen Familienmitgliedern so voll gestopft, dass das Gepäck lediglich auf dem Dach gestapelt werden kann.

Hauptsehenswürdigkeit in Amritsar ist der goldene Tempel der Sikh. Der Sikhismus ist erst ab dem 15. Jahrhundert entstanden, und prägende Einflüsse von Hinduismus und Islam sind deutlich spürbar. Mit ihren großen Turbanen, langen Bärten und manchmal umgeschnallten Schwertern sind Sikh- Männer eine beachtliche Erscheinung und kaum zu übersehen. Die Frauen dagegen sind äußerlich nicht von Hindus zu unterscheiden. Ganz schön diskriminierend, dass die Männer ihre Haarpracht verschleiern müssen. Aber da regt sich natürlich keiner darüber auf 😉

Sikhs sind insgesamt sehr freundlich (zumindest, falls man keine Panzer in den goldenen Tempel schickt), gebildet und spenden viel von ihrem Einkommen für wohltätige Zwecke. Ein besonderes Feature von Sikh-Tempeln ist die kostenlose Großküche, die jeden Gast bewirtet. Im goldenen Tempel ist diese Küche sogar rund um die Uhr geöffnet (hier ein kleiner Film vom ZDF).

Die ganze Atmosphäre um den goldenen Tempel herum ist sehr entspannt und spirituell. Es ist die erste größere Touristenattraktion, die wir betreten können, ohne vorher durch einen Metalldetektor zu laufen und abgetastet zu werden. Trotzdem gab es noch keinen Bombenanschlag. Unglaublich 😉 Wir lassen uns in einer schattigen Ecke nieder, um die Atmosphäre zu genießen, sind aber schon nach wenigen Minuten von einer Gruppe Englischlerner umringt, die mit ihrem Lehrer jeden Samstag in den Tempel gehen, um ihre Sprachpraxis zu verbessern. Wie immer drehen sich die Gespräche um Cricket, Fußball und deutsche Autos, aber vor allem um arrangierte Hochzeiten vs. Liebeshochzeiten.

Amritsar liegt in Punjab. Punjab ist sowohl der Name der indischen als auch einer pakistanischen Provinz. Mit der Unabhängigkeit von Großbritannien und der Gründung Pakistans sowie Indiens im Jahr 1947 wurde die Provinz allerdings auseinandergerissen. Die indische Stadt Amritsar und die pakistanische Metropole Lahore liegen nur  gut 50 km auseinander. Obwohl sich zwischen Amritsar und Lahore der einzige passierbare Grenzübergang zwischen Indien und Pakistan befindet, haben wir in beiden Städten niemanden getroffen, der bereits die jeweils andere Stadt besuchte.

Der Grenzübergang ist wohl einer der skurrilsten der Welt, da hier jeden Abend kurz vor Sonnenuntergang eine militärische Grenzschließungszeremonie vor tausenden von Zuschauern stattfindet. Der Grenzübergang selber wird von einem Doppeltor markiert. Das eine Tor ist in den Farben Pakistans gestrichen, das andere in den Farben Indiens. Auf beiden Seiten schließen sich Tribünen für tausende Zuschauer an, die von einem Torbogen abgeschlossen werden. Auf dem indischen Torbogen blickt ein großes Portrait Mahatma Gandhis in Richtung Pakistan und auf der anderen Seite schaut Muhammad Ali Jinnah in Richtung Indien. Händler verkaufen Popkorn und alle möglichen Fan-Artikel, mit welchen das indische „Team“ angefeuert werden kann. Als wir 90 Minuten vor dem Beginn der nur 30 Minuten dauernden Zeremonie ankommen, sind die Tribünen bereits hoffnungslos überfüllt. Glücklicherweise, zumindest für uns, kennt Indien die positive Diskriminierung, und so dürfen wir in einem eigens für Ausländer reservierten Tribünenbereich Platz nehmen. Vor uns sitzen nur noch die VIP Gäste, die wohl nach Anzahl und Wichtigkeit der Stempel auf ihren persönlichen Einladungszetteln auf die Sitzreihen eins bis sechs verteilt werden. Aus den Boxen dröhnt laute Musik, Freiwillige rennen immer wieder mit der indischen Fahne in der Hand bis zum pakistanischen Tor, und ein Anheizer bringt die Menge zum Toben. Die eigentliche Zeremonie beginnt mit zwei Soldatinnen, die im Laufschritt zum Grenztor stürmen. Dann werden die Grenztore aufgeworfen, und auf beiden Seiten bezieht ein Trupp Soldaten Stellung. Die allesamt circa zwei Meter großen Soldaten rücken provozierend ihre Hahnenkamm-Hüte zurecht, führen immer wieder komische Karatetritte aus, bei denen es darauf anzukommen scheint, wer das Bein am höchsten bekommt und schauen sich böse in die Augen (Es wäre bestimmt ein Mordsspaß, wenn sich ein indischer Sascha Baron Cohen mal hier einschmuggeln und Soldaten der Gegenseite knuddeln würde).

Dann werden auch schon ganz langsam die Fahnen eingeholt, die Tore zugeschmissen, und der Spuk ist auch schon vorbei. Wahrhaftig eine der skurrilsten und lustigsten Veranstaltungen, die ich je gesehen habe. Allerdings finden es nicht alle Inder/ Pakistanis lustig, wenn man die Zeremonie als lustig bezeichnet 🙂

Der goldene Tempel der Sikh in Amritsar

Tellerausgabe der Großküche im goldenen Tempel

Im Speisesaal

Traditionelle indische Bewässerungsmethode: erst austrocknen lassen und dann überfluten

Voll besetzte indische Bühne an der Grenze zu Pakistan kurz vor der Grenzschließungszeremonie

Yeah!

Ob sich Gandhi sein Nachleben wohl so vorgestellt hat?

Gandhi gegenüber hängt das Bild des pakistanischen Staatsgründers Jinnah

Blick über die Grenze hinweg auf die pakistanische Männertribüne

Hauptsache der Hahnekamm sitzt

 

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